Systematik: Verbindung von Klassifikation und Evolution

Systematik: Verbindung von Klassifikation und Evolution
Systematik: Verbindung von Klassifikation und Evolution
 
Die Vielfalt der Lebewesen auf der Erde führte zu dem Bedürfnis der Forscher, Systeme zu entwickeln, mit deren Hilfe sich die mannigfaltigen und komplexen Beziehungen zwischen den Lebewesen besser überblicken und beurteilen lassen. Im Jahr 1735 erschien Carl von Linnés Abhandlung »Systema naturae«, die ein System der Klassifikation von Organismen bietet. Ein wichtiges Merkmal seiner Taxonomie ist die binäre Nomenklatur: Jede Art hat einen lateinischen Namen, der aus zwei Teilen besteht, wobei das erste Wort die Gattung nennt, der der Organismus angehört, und das zweite die Art bezeichnet. Darüber hinaus schuf Linné ein hierarchisches System, in dem er die Organismen nach dem Bau der Geschlechtsorgane (Staub- und Fruchtblätter), aber auch nach Ähnlichkeiten in immer allgemeinere Kategorien ordnete. Gut hundert Jahre später, im Jahr 1859, veröffentlichte Charles Darwin seine Evolutionstheorie »Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl«. Zu dieser Theorie veranlassten ihn — ähnlich wie Linné auch — vergleichende Beobachtungen und Untersuchungen von Arten, insbesondere von Finkenarten auf den Galápagosinseln. Darwins Theorie geht von der Vorstellung aus, dass alle heute lebenden Organismen sich von primitiver organisierten Vorfahren ableiten. Im Verlauf dieser Entwicklung kam es immer wieder zur Aufspaltung einer Form in verschiedene andere Formen, sodass sich ein regelrechter Stammbaum der Organismen entwickelte, der die unterschiedlichen Verwandtschaftsgrade der heute existierenden Lebewesen untereinander erkennen lässt. Darwins Theorie, dass die biologische Vielfalt eine Folge der Evolution ist, hat bis heute Gültigkeit und ist von fast allen Biologen anerkannt.
 
 Mutationen und umweltbedingte Auslese als Motor der Evolution
 
Wie ist nun eine solche Weiterentwicklung möglich? Wir wissen heute, dass die Erbanlagen der Lebewesen nicht über lange Zeiträume hinweg völlig konstant bleiben, sondern einem allmählichen Wandel durch Erbänderungen oder Mutationen unterliegen. Nach dem Hardy-Weinberg-Gesetz bleibt das Verhältnis von veränderten zu unveränderten Individuen in einer Population, das ist eine Gruppe von Lebewesen einer Art in einem bestimmten Lebensraum, stets gleich, sofern nur die sexuelle Rekombination, also die Vermischung väterlicher und mütterlicher Gene, eine Rolle spielt. Eine solche Population ist im genetischen Gleichgewicht, in ihr findet keine Evolution statt. Wirken jedoch weitere Faktoren ein, die zu Veränderungen der Häufigkeit bestimmter Gene, beispielsweise infolge von Mutationen, führen, tritt eine Verschiebung dieses Gleichgewichts ein, und das ursprüngliche Verhältnis von veränderten zu unveränderten Individuen wandelt sich. Diese Änderung von Genhäufigkeiten ist Evolution im kleinsten Maßstab.
 
Die wohl häufigste Ursache für eine solche Verschiebung ist in der Auslese (Selektion) von Eigenschaften zu sehen, die die Überlebensfähigkeit ihres Besitzers verbessern. Denn eine spürbar verbesserte Vitalität verleiht dem betreffenden Individuum Vorteile beim Überleben und bei der Fortpflanzung. Damit reichert sich eine solche vitalitätsfördernde Mutation automatisch in einer Population an — im Unterschied zu Mutationen, die ihrem Besitzer keinen Vorteil gegenüber anderen Individuen verschaffen. Auf diese Weise entwickeln sich bevorzugt Formen, die am besten an die gerade herrschenden Umweltbedingungen angepasst sind.
 
 Auch Neuordnungen des Genbestands treiben die Evolution voran
 
Neben den oben erwähnten Mechanismen, nämlich Mutation und umweltbedingte Auslese der bestangepassten Formen, gibt es noch einige andere Faktoren, die die Weiterentwicklung (Evolution) der Organismen vorantreiben. Dazu gehören etwa die Einwanderung von Erbanlagen in eine Population oder auch der Verlust von Erbanlagen. Solche Vorgänge werden beispielsweise durch weit verwehte Pollen beziehungsweise durch weit verschleppte Samen oder durch die Wanderung einzelner Tiere über den angestammten Lebensraum hinaus, verbunden mit der Erzeugung von Nachkommen mit Artgenossen anderer Populationen, möglich. Ein weiterer, sehr wichtiger Schritt besteht darin, dass der Erbspeicher eines Lebewesens, das Genom, unter bestimmten Bedingungen größer werden kann, indem sich Teile des Genoms verdoppeln (Duplikationen) und in dieser Form auf die Nachkommen übertragen werden oder indem sich das gesamte Genom, also der ganze Chromosomensatz, verdoppelt. Letzteres nennt man Polyploidisierung. In beiden Fällen wird eine erhöhte Speicherkapazität für Erbanlagen geschaffen, die bei Pflanzen zur spontanen Entstehung neuer Arten führen kann. Schließlich gilt die Umgruppierung von Erbanlagen im Genom, die Rekombination, als wichtige Triebfeder für die Evolution, denn bei jeder Umgruppierung des Genbestands werden neue Kombinationen von Erbanlagen geschaffen, die sich entweder in der Umwelt bewähren und dann weitergegeben werden oder die sich nicht behaupten können und damit wieder verschwinden.
 
Derartige Neuordnungen des Genbestands finden bei höheren Organismen — bei Tieren ebenso wie bei Pflanzen — im Zuge der Meiose, die der Bildung der Fortpflanzungszellen (Gameten) stets vorausgeht, regelmäßig statt. Das Genom der Organismen gleicht daher einem Kartenspiel, das vor jedem Fortpflanzungsvorgang neu gemischt wird. Bei Bakterien kommen solche Vorgänge viel seltener vor, nämlich nur dann, wenn DNA-Stückchen zufällig von einer Zelle aufgenommen werden (Transformation), wenn Bakteriophagen DNA-Stückchen von einer Bakterienzelle zur nächsten verschleppen, wie bei der Transduktion, oder wenn bei der Konjugation zwei Bakterienzellen vorübergehend eine Cytoplasmabrücke für einen DNA-Austausch bilden.
 
 Welcher Methoden bedient sich die Systematik?
 
Den Formenreichtum der Lebewesen haben wir als Ausdruck einer langen Entwicklungsgeschichte kennen gelernt, in deren Verlauf immer neue Anpassungen an die jeweils herrschenden Umweltbedingungen erzielt wurden und werden. Die heute lebenden Organismen müssen dementsprechend in bestimmten, verwandtschaftlichen Beziehungen zueinander stehen, die man versucht, im »natürlichen System der Organismen« darzustellen. Viele dieser verwandtschaftlichen Beziehungen sind gut belegt, doch es bestehen daneben noch viele Wissenslücken, sodass das natürliche System der Organismen noch nicht als endgültig angesehen werden darf. Vielmehr muss man es als die bislang beste Annäherung an die tatsächlichen Verwandtschaftsbeziehungen der Organismen betrachten.
 
Mit welchen Methoden lassen sich nun Stammbäume der Entwicklung, aus denen ein natürliches System besteht, rekonstruieren? Die wohl ältesten Methoden, die auch von Linné und Darwin angewandt wurden, bestehen im Vergleich des äußeren (Morphologie) und des inneren (Anatomie) Aufbaus der Lebewesen. Die biologische Art, die es einzuordnen gilt, ist so definiert, dass nur innerhalb der Angehörigen einer Art Paarung und Erzeugung fruchtbarer Nachkommen stattfinden können. Darwin war darüber hinaus über die geographische Verbreitung der Arten, deren jeweils spezifische Ausprägungen und die Tatsache, dass gerade auf Inseln viele endemische — auf engem Raum begrenzt vorkommende — Arten leben, auf das Phänomen der Evolution gestoßen.
 
Relativ neu ist die Anwendung molekularbiologischer und biochemischer Methoden zur Klärung evolutionstheoretischer Fragen. Zum Beispiel können mithilfe molekularbiologischer Methoden die Nucleinsäuren verschiedener Organismen verglichen werden, denn diese, insbesondere die DNA, sind das direkteste Maß für eine Verwandtschaft. Seit Entwicklung der Polymerase-Kettenreaktion ist man sogar in der Lage, DNA-Spuren aus Fossilien so anzureichern, dass ausreichende Mengen zu ihrer Untersuchung erhalten werden. Interessanterweise hat die Anwendung dieser neuen Methoden, mit deren Hilfe das Erbmaterial direkt verglichen werden kann, das bisherige System weitgehend bestätigt. Sie konnten aber in einer Reihe von Fällen dazu beitragen, Unklarheiten zu beseitigen und damit einige lange und erbitterte Diskussionen zu Ende bringen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass durch die neuen Methoden nicht auch neue Fragen aufgeworfen wurden.
 
 Die Ordnungsprinzipien der Systematik
 
Trotz der unüberschaubaren Vielgestaltigkeit des Lebens auf der Erde folgt nicht jede Art einem völlig eigenständigen Bau- und Funktionsprinzip. Vielmehr ähneln viele Arten einander mehr oder minder ausgeprägt, sie zeichnen sich also durch den Besitz prinzipiell baugleicher Struktureinheiten aus. Ein wichtiges Beispiel dafür stellen die homologen Organe dar, so etwa die fünffingrigen Extremitäten der Wirbeltiere. Man fasst deshalb alle mit ähnlichen Strukturmerkmalen ausgestatteten Organismen zu Stämmen oder Abteilungen zusammen. Doch auch die Vertreter verschiedener Stämme oder Abteilungen weisen gewisse, stets wiederkehrende Bauelemente auf, wie zum Beispiel einen Zellkern und eine Zellmembran. Bei genauerer Analyse der Baumerkmale der Lebewesen ergibt sich ein hierarchisches System von einander stärker oder weniger stark ähnelnden Lebewesen.
 
Die einander am nächsten verwandten Formen fasst man als Arten zusammen. Einander ähnliche Arten bündelt man wiederum zu Gattungen. Dabei bedient man sich der eingangs erwähnten, auf Linné zurückgehenden binären Nomenklatur, die für jedes Lebewesen zwei Namen bereithält, wobei der erste die Gattung (zum Beispiel Rosa für Rose) nennt und der zweite die Art (zum Beispiel Rosa canina für Hundsrose). Damit kann die Art auch als genauere Spezifikation einer Gattung betrachtet werden. Einander ähnelnde Gattungen bilden zusammen eine Familie (beispielsweise Rosaceae oder Rosengewächse) und miteinander verwandte Familien stellt man zu einer Ordnung (in unserem Beispiel Rosales) zusammen. Mehrere Ordnungen fasst man zu Klassen zusammen (beispielsweise Rosopsida, die Dreifurchenpollen-Zweikeimblättrigen) und Klassen zu Abteilungen (in diesem Fall Spermatophyta, die Samenpflanzen) bei Pflanzen beziehungsweise zu Stämmen bei Tieren. Die höchste Kategorie bildet das Reich (hier Plantae, die Pflanzen).
 
Prof. Dr. Günter Fellenberg, Wolfsburg
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Ökologie: Populationen und Biozönosen

Universal-Lexikon. 2012.

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